Kurzgeschichten
Winterblütenwunder

_Winterblutenwunder1

"Au weia ist das saukalt", bibbert die dicke Knospe Frieda und schüttelt sich den Raureif vom Bauch. "Sei doch froh, dass endlich Frost gekommen ist", wettert ihre nicht viel schlankere Nachbarin Alma und rüttelt ein bisschen Luft unter den engen Knospenpanzer. "No risk – no fun" seufzt Nachbarin Berta, - "ohne Frost können wir im Frühjahr nicht blühen, ohne Blüte besuchen uns keine Bienen und ohne Bienen werden wir nicht zu herrlich süßen Kirschen. Also haltet die Klappe und freut euch über den wunderschönen Sonnenschein, wenn's auch kalt dabei ist." "Na, ich weiß nicht, ob das so gerecht ist", murrt Knospe Frieda, "guckt bloß mal in das Glashaus da drüben. Da, das kleine Bäumchen mit den gelben Äpfeln und den vielen weißen Blüten, die haben es fein warm." "Ooch", staunt Alma, "die alte Frau hat nicht mal Handschuhe an beim Zeitunglesen."

"Das ist doch ein Wintergarten", mischt sich Berta besserwisserisch ins Gespräch, "da gehören nur Pflanzen rein, die überhaupt keine Kälte vertragen, weil sie aus warmen Gegenden stammen. Die gelben Äpfel sind übrigens Mandarinen und die Farbe nennt man Orange." "Was du alles weißt", wispert Iris, ein noch sehr kleines Knospenmädchen. Und Berta legt nach: "Ja, wo die herkommen, ist es immer so warm, dass Blüten, grüne und reife Früchte gleichzeitig am Baum wachsen.

Plötzlich kommt Unruhe in die Kirschzweige. "Häi, was ist denn jetzt los", schimpft Frieda, "zappelt doch nicht so doll, sonst fallen wir noch ab". "Das sind wir nicht", schallt es jetzt im Chor vom ganzen Zweig, "das kommt von weiter unten". "Oh nein", stöhnt Knospe Iris ganz heiser vor Angst, "da kommt ein scharfes Messer an einer langen Stange. Wir werden abgeschnitten", röchelt sie noch mit versagender Stimme.

Mit scharfem Schnipp-Schnapp kappt ein Messer an der Teleskopschere den Zweig. Die ganze Knospen-Gesellschaft rauscht herab und landet unsanft auf dem gefrorenen Boden. Da liegen schon ein paar Zweige. Es herrscht ein ziemliches Gewirr. Alle Knospen schnattern und schimpfen durcheinander. Der Mann mit der Astschere sammelt die Zweige ein und trägt sie ins Haus. "Das hast du jetzt von deiner Meckerei", zischt Alma und ordnet ihre ramponierte Knospenhaut.

"Hoffentlich geht das gut und wir werden nicht verheizt oder sonst wie um die Ecke gebracht." "Aber schön warm ist es hier drin", freut sich Frieda. "Du denkst eben nur bis zu deiner Nasenspitze", brummelt Alma und gibt sich dem Geschehen hin.

Der Mann steckt die Zweige in eine Vase mit warmem Wasser und stellt sie an einen hellen Platz im Wintergarten. Und da stehen sie nun stolz neben dem Mandarinenbäumchen und atmen den südlichen Duft der weißen Blüten.

Susi und Tobias hopsen neugierig herbei. "Vati, was machst du da mit den Zweigen?" "Das sind Barbarazweige", erklärt er fast ein bisschen feierlich und streichelt die Zweige, als umgebe sie eine Aura. "Man schneidet sie nach einer alten Tradition am vierten Dezember, dem Tag der Heiligen Barbara. Und wenn wir Glück haben, dann blühen die Zweige an Weihnachten."

Misstrauisch beäugen Susi und Tobias die unbelaubten Zweige, die wie Ruten aus der Vase ragen. Und der Vater ermahnt sie, die Zweige mehrfach am Tage mit zimmerwarmem Wasser einzusprühen, damit die Rinde nicht austrocknet. "Am besten, ihr übernehmt das und sorgt auch dafür, dass immer frisches Wasser in der Vase ist. Dann seht ihr, wie sich die Knospen aufplustern und dann entfalten wie im Frühling." Susi und Tobias wittern ein Abenteuer und versprechen, sich um die Pflege der Zweige zu kümmern. "Passt aber auf", mahnt der Vater, dass die Glasscheiben und der Boden nicht so nass werden."

Nach einigen Tagen werden die Knospen unruhig. "Ich glaub, ich hab die fliegende Hitz" flüstert Frieda und hebt fächelnd zwei Knospenblätter. Auch Alma hechelt ein bisschen: "Bei mir rumpelts und pumpelts." "Und Iris flüstert andächtig, "Ich spüre Leben in mir." Tatsächlich fühlen alle Knospen, wie sich in ihrem Inneren die Wachstumsgeister zu regen beginnen. In den darauf folgenden Tagen werden die Knospen dicker und dicker.

"Ich glaube, ich habe zugenommen", ächzt Frieda vor sich hin. "Was heißt zugenommen", kichert Alma, "bei dir spitzt ja schon die Unterhose heraus". Frieda ärgert sich: "Quatsch, das ist mein Spitzenkragen. "Ach, der ist ja ganz zerknautscht. Hoffentlich zieht der sich wieder hübsch glatt, sonst sehe ich ja aus, wie aus dem Koffer!" Alma hingegen hat keinen Sinn für Äußerlichkeiten und meint lakonisch: "Also aus Kirschmarmelade wird nix, das ist schon mal klar. Die lassen uns hier verhungern." Iris wispert ängstlich: "Verhungern? Wie schrecklich! Und keine Bienen, die sich über mich beugen, mich küssen und berühren?" "Schminkt euch solche Träume ab", wirft Alma in die Knospenrunde, "das hier ist unser ultimatives Ende."

"Nun seht mal nicht so düster in die Zukunft", mischt sich die kluge Berta ein. "So schlecht haben wir das gar nicht getroffen. Am Baum waren wir nur wenige von ganz vielen. Die meisten von uns fallen im Frühjahr sowieso unnütz ins Gras. Hier haben wir einen besonderen Platz, erfreuen uns einer fürsorglichen Pflege und ich glaube, wir werden noch eine schöne und interessante Zeit erleben. Also strengt euch an, damit wir rechtzeitig besonders schön blühen."

Susi und Tobias werden immer ungeduldiger. An den Barbarazweigen tut sich kaum etwas. Wenigstens sehen sie nichts. Soll der Vater etwa denken, sie hätten die Zweige nicht genug gepflegt, wenn sie am Weihnachtstag nicht blühen. Ob man mal ein wenig nachhilft? Ein bisschen an den Knospen herumpopeln? Tobi probiert’s. Alma findet das gar nicht toll und hält ihren Mantel mit aller Kraft zu. Bei Frieda haben sie mehr Glück; aber oweiha, nun hat der Spitzenkragen einen Riss abbekommen. Und als hätte Susi Friedas entsetzten Schrei vernommen, hindert sie den Bruder am weiteren Herumknispeln. "Lass mal, Tobi, wenn das mit der Heiligen Barbara stimmt und die sich über uns ärgert, kriegen wir womöglich keine Geschenke von unserem Wunschzettel."

"Das war knapp", schüttelt Frieda ihr Knospenköpfchen, "warum nur sind die Menschen immer so ungeduldig?" Mühsam versucht sie den Riss mit den Rüschen ihres Kragens zu verdecken. Auch Alma entspannt sich wieder.

"Noch zwei Tage bis Weihnachten", resümiert Berta und pumpt etwas Luft in ihren Bauch. Ihr Zustand ist unübersehbar. Und die kleine Iris macht es ihr nach, bis sich auch ihr Mäntelchen ein bisschen öffnet und ein grüner Unterrock sichtbar wird.

Am Heiligabend können die Knospen nur noch staunen. Mit Glaskugeln, Lametta und Kerzen verwandelt der Vater mit den Kindern einen unscheinbaren grünen Tannenbaum in ein glitzerndes Kunstwerk, einen Christbaum. Am Abend lassen dann die funkelnden Lichter der brennenden Kerzen die Knospen vor Neid erblassen. Vater, Mutter, Susi und Tobias bestätigen sich mit leuchtenden Augen immer wieder, dies sei der schönste Weihnachtsbaum aller Zeiten.

Die Barbarazweige mit ihren Knospen, die gerade mal ein paar weiße Spitzen zu bieten haben, bleiben unbeachtet. "Sicher werfen sie uns morgen weg", weint die kleine Iris, "weil wir nicht so schön sind, wie dieser Baum!" "Erst mal abwarten", raunt Frieda und ist schon wieder am Pumpen. Auch Berta atmet schwer und versucht ihren Mantel zu sprengen.

Die Menschen ahnen davon nichts. Sie löschen die Kerzen und lassen die Zweige in der Dunkelheit zurück. Doch zur Ruhe kommen die noch lange nicht. Etwas in ihnen arbeitet und drängt nach außen. Alma presst wie eine Wilde, um ihr schönes weißes Kleidchen von der Umklammerung zu befreien. Und tatsächlich – so kurz nach Mitternacht – reißen die letzten Nähte und die Petticoats der Blüten falten sich auf wie kleine Satellitenschüsseln. "Puh", stöhnt Frieda, "das war knapp!" Alma atmet erleichtert auf, als sich endlich ihr Unterrock in Rüschen um sie legt. Auch Iris hat es geschafft, eine kleine zarte Blüte um sich zu drapieren. Nur Berta rackert noch eine Viertelstunde länger, bis auch sie ihr Blütenkleid aus dem Knospenumhang zieht.

"Die Barbarazweige blühen" frohlocken die Kinder am nächsten Morgen. Stolz und majestätisch präsentieren sich die Blüten an den Zweigen. Plötzlich stehen sie im Mittelpunkt und können mit dem Christbaum mühelos mithalten. Zumal, als der Vater die Legende von der Heiligen Barbara erzählt, deren Gewand sich, damals an einem 4. Dezember im 15. Jahrhundert, auf dem Weg ins Gefängnis in einem trockenen Zweiglein verfangen habe. Sie habe den Zweig in ihrer kargen Zelle in einen Becher Wasser gestellt. Und am 25. Dezember hätten sich – wie ein Wunder - alle Blüten geöffnet. Während die Kinder noch andächtig zuhören, wispert es in den blühenden Zweigen, "habt ihr gehört, wir sind ein Wunder, ein Weihnachtswunder."

© Fischer + Siegmund

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Letzte Aktualisierung 12.01.2023

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